Das Kirmeskrönchen von Grimlinghausen

Von Joseph Lange

Wenn in Neuss-Grimlinghausen am Sonntag nach Cyriakus, dem Tag des Pfarrpatrons, das seit 1855 übliche Schützenfest begangen wird, vollzieht der Pfarrer vor dem Hochamt einen ebenso eigenartigen wie sinntiefen Brauch: Er setzt einem Mädchen eine aus Grün und Rosen geflochtene Krone auf das Haupt. So geschieht es seit fast 190 Jahren, so haben es die Vorfahren gehalten nach dem Vermächtnis einer Witwe, das noch vor wenigen Jahren neu bekräftigt wurde.
Die Krone aus Rosen ist das sogenannte Tugend- oder Kirmeskrönchen, ehrenvolle Auszeichnung für ein Mädchen, das am Festtag des Pfarrpatrons vor der in der Kirche versammelten Gemeinde als Vorbild für die Jugend hingestellt wird, wie es die Witwe Theresia von Kempis geborene Freiin von Sierstorpff in ihrem Stiftungsakt vom 23. Dezember 1787 bestimmt hat: Bis „zu ewigen Tagen ohnabänderlich” soll am Feste des Pfarrpatrons ein tugendhaftes Mädchen mit einem Kranz aus Rosen und einem Geldgeschenk ausgezeichnet werden. Mit dieser Stiftung wollte Theresia von Kempis in einer Zeit „täglich mehr einreißender Verderbnis” der Jugend einen Ansporn geben zu gesittetem Lebenswandel, damit „besonders das weibliche Geschlecht sich züchtig, ehrbar, fromm und fleißig betragen und zu wackeren Hausmüttern heranwachsen werde”.
Der Kranz oder die Krone aus Rosen hat einen tiefen Sinn: Kranz und Krone sind das Symbol der Beharrlichkeit im Guten und Zeichen des Lohnes für den Gerechten und Tüchtigen, den Tapferen und Siegreichen, sind auch Sinnbild der Jungfräulichkeit, das in der Brautkrone seine schönste Erhöhung findet. Und die Rose gilt als Symbol aller Tugendhaftigkeit, auch der Tapferkeit und der Gottesliebe. Die Stifterin muß eine lebenserfahrene Frau gewesen sein, denn zum symbolischen Ehrenpreis fügte sie einen Geldpreis als weitere „Aufmunterung” hinzu. Damit die Auszeichnung Bestand habe, stiftete die Witwe von Kempis ein mit 3,5 Prozent zinsbar angelegtes Kapital von 100 Kronentalern, das dinglich gesichert war durch Ländereien im Erzstift Köln und vom Reuterhof zu Grimlinghausen verwaltet und garantiert werden sollte. Der Reuterhof war in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in den Besitz der Familie Kempis über-gegangen. Nach dem Tode ihres Mannes Johann Reinhart von Kempis verzog die Witwe nach Bonn, wo auch die Stiftungsurkunde ausgefertigt wurde.
Laut Urkunde sollte der Tugendpreis am Cyriakusfest, und zwar „vor der gewöhnlichen Prozession” verliehen werden, die danach früher am Patrozinium, wie noch heute an vielen Orten, auch in Grimlinghausen üblich gewesen ist. Diesen Termin hat Theresia von Kempis sicherlich mit Bedacht gewählt, denn zugleich mit dem Tag des Pfarrpatroziniums wurde die Kirchweih, die Kirmes gefeiert (das erst im 19. Jahrhundert entstandene Schützenfest hat ursprünglich nichts damit zu tun). Der kirchlichen Feier folgte nach altem und heute noch gültigem Brauch das weltliche Vergnügen. Jedes Mädchen aber, das nach Verkündigung der Stiftung am „Rheytanz” teilnahm, war nach dem ausdrücklichen Willen der Stifterin vom Tugendpreis ausgeschlossen. „Reibtanz”, das war der Tanz der Junggesellen, der „Reihjonge” oder „Gelogsjonge”, die auf der Kirchweih ihr „Gelage”, Umtrunk und Tanzvergnügen zu veranstalten pflegten, ein weit zurückreichender rheinischer Kirmesbrauch, der in vielen Orten des Rheinlandes, auch in der Gegenwart noch lebendig ist, früher von der Obrigkeit nicht gerne gesehen und deshalb oft, aber meist vergeblich, verboten wurde. Nebenbei erfahren wir also aus der Stiftungsurkunde, dass auch in Grimlinghausen dieses Junggesellen-Vergnügen einmal im Schwange gewesen ist. Leider hat Pastor Arnold Zimmermann (1773—1792) keine Schilderung der damaligen Verhältnisse und keinen Kommentar zu der löblichen Absicht der Witwe Theresia von Kempis hinterlassen. Den Wortlaut der Stiftung enthält ein Kirchenbuch seiner Vorgänger, die darin die Taufen (vom 13. 5. 1745 bis 28. 1. 1770), die Trauungen (vom 12. 9. 1745 bis 2. B. 1768), die Sterbefälle (vom 16. 5. 1745 bis 30. 3. 1768) und in einem besonderen Verzeichnis die unehelichen Geburten (zwischen 1747 und 1767) registriert haben.
Der Zinsertrag des Stiftungskapitals belief sich anfänglich auf drei und einen halben Kronentaler, eine weit verbreitete, hochwertige brabantische Währung. Davon erhielt das Mädchen 2 Kronentaler. Aus der bald folgenden Franzosenzeit ist keine Angabe überliefert. Um 1830 wird der „Ehrenpreis” mit 6 Reichstaler clevischer Münze — bis weit in das 19. Jahrhundert hinein wurde nach alten Währungen gerechnet! — oder 4 (wohl preußische) Taler 18 Silbergroschen 5 Pfennig angegeben, 1836 mit 7 clevischen Reichstalern, 1896 mit M 9,20. Die letzte Angabe stammt von Pfarrer Schmitz, der am Cyriakustag 1900 einen Vermerk seines Vorgängers Pfarrer Hüsen ins Kirchenbuch übertrug, nach dem der Pächter des Reuterhofes dem Pfarrer alljährlich anfangs August 16 Mark 10 Pfennig zahlt, wovon dem belohnten Mädchen 9,20 DM = 2 Kronentaler, dem Küster, zugleich für die Anfertigung des Kränzchens, 4,60 M = 1 Kronentaler, dem Pfarrer 2,30 M = ‚/2 Kronentaler zustehen. 1911 wurde der Reuterhof an die Stadt Neuss verkauft, die sich um die Auflage von 1787 nicht mehr kümmerte; Krieg und Inflation entzogen der Stiftung völlig die finanzielle Grundlage. Aber der Brauch wurde, auch ohne Geldgeschenk für das Mädchen, von der Pfarre Grimlinghausen dem Willen der Stifterin gemäß beibehalten. Erst Pfarrer Meng gelang es, die Stadt zur Weiterführung der auf dem Reuterhof lastenden Verpflichtung zu bewegen: seit 1955 zahlt sie alljährlich als Ersatz für die einstige Kronentalerschuld die runde Summe von DM 50,—.
Einen Verlust der Stiftung in der Franzosenzeit befürchtete Pastor Jakobus Wahlen (1792 bis 1818), der der Niederschrift des Stiftungstextes eine „Pro memoria“-Notiz beigefügt hat, in der er unter dem 31. Oktober 1799 bezeugt, daß er die „zwey Blätter, welche die von Kempis’sche Fundation so wie auch die Quitt.-Scheine der beschenckten Mädgen enthalten”, im Jahre 1798, als alle Taufbücher von der Municipalität, der französischen Verwaltung, eingefordert wurden, „aus diesem Buche weggerißen und das Jahr darauf, als bemeldte Bücher den H. Pastoren zurückgegeben wurden, hier am nemlichen Orte wieder ein-geheftet” habe.
Tugendkrone und Ehrenpreis wurden am Cyriakustage 1788 zum ersten Mal vergeben. Die Namen der Trägerinnen sind uns überliefert, da die Pfarrer, wie es in der Stiftung verlangt wird, die ausgezeichneten Mädchen Jahr um Jahr in das nämliche Kirchenbuch eingetragen haben. An der gleichen Stelle haben die Mädchen jeweils den Empfang des Tugendpreises quittiert. Wer „des schreibens unerfahren” war, und das waren von den 28 Mädchen, die bis 1816 den Preis erhielten, 15, machte ein Kreuzchen als „merckzeichen”. Danach erscheint nur noch zweimal ein Kreuz als Unterschrift. Die Mädchen mussten mindestens 14 Jahre alt und durften nicht älter als 25 Jahre sein.

Der Text der Stiftungsurkunde lautet:
„Ich, Theresia verwittwete von Kempis, gebohrene Freyin von Sierstorpff, thue hiemit kund und zu wißen, — demnach ich das täglich mehr einreißende Verderbnis der Sitten bei mir reiflich beherziget und dabey befunden habe, daß bey dem jetzigen Zeitlaufte die Tugend für sich selbst vielfältig nicht hinlänglichen Reiz habe, um die zu den Jahren der Verführung gekommene Jugend von Ausschweifungen abzuhalten, sondern geringe Belohnungen vielleicht sichere Wegweiser für dieselbe auf dem Pfad der Tugend seyn mögen, und dan hiedurch die Ehre Gottes mercklich befördert, auch für den Nutzen des Nächstens christlich damit gesorget wird, daß, durch Belohnungen aufgemuntert, die Jugend, besonders das weibliche Geschlecht sich züchtig, ehrbar, from und fleißig betragen und zu wackeren Hausmütteren heranwachsen werde, so habe ich mich entschloßen, zu diesem Ende folgende Stiftung zu errichten.
Ich setze demnach, stifte und ordne ein Kapital von einhundert stück Kronenthaler, welches auf liegende Unterpfände, so in dem Erzstift Köln gelegen sind, und gegen gerichtliche Versicherung zu 31/2 pro cento rentbar angelegt werden soll.
2tens: soll von den jährlichen Zinnsen 1 Kronenthaler zu Verfertigung eines Kranzes von Rosen, welcher dem tugendhaftesten Mädchen bestimt ist, verwendet, 2 Kronenthaler demselben annebst geschenkt werden, und 1/2 Kronenthaler dem Herrn Pastor für seine Bemühung verbleiben.
3tens: soll diese Belohnung demjenigen Mädchen gegeben werden, welches nach Gutdünken eines zeitlichen Herrn Pastors an Tugenden der Frömmigkeit, der Keuschheit, des Gehorsams und des Fleiß das Jahr hindurch am meisten sich ausgezeichnet hat.
4tens: muß dieses wenigstens 14 Jahre zurückgelegt haben, indem keines, so dieses Alter noch nicht erreicht hat, so wie auch nach zurückgelegtem 25ten Jahr zu dem Preiß mehr zugelassen ist. Gleichwie übrigens
5tens: ein Mädgen, welches mehrere Jahren hindurch die beste Aufführung gezeigt hat, auch öfter den Preiß erhalten kan, so sollen alle diejenige auf immer davon ausgeschloßen seyn, welche, nachdem diese Stiftung verkündet seyn wird, dem Rheytanz noch beigewohnt haben.
6tens: Wird der Preiß jährlich auf den heiligen Cyriakus Tag vor der gewöhnlichen Proceßion gegeben, und der zeitliche Pastor ersucht, die Nahmen derjenigen, welche den Preiß erhalten haben, aufzuzeichnen und über den Empfang sich eine Quittung ausstellen zu laßen.
7tens: soll der zeitliche Besitzer des Reuterhofes in. Grimlinghausen die Oberaufsicht über diese Stiftung haben, ihm, wenn das dazu gewiedmete Kapital etwa abgelegt werden solte, davon Nachricht gegeben und über die neue Anlage seine Einwilligung nachgesucht werden.
8tens: soll diese Stiftung zu ewigen Tagen ohnabänderlich vorbeschriebener Maßen verwendet und unter keinem Vorwand hierin eine Aenderung vorgenommen werden; solte jedoch dieses wider meine Erwartung und hierdurch erklärten ausdrücklichen Willen geschehen, so verordne ich
9tens: hiemit, daß von dem Augenblick der darinn geschehenen Abänderung das obgemeldte Kapital der hundert Kronenthaler dem dahier zu Bonn errichteten Armenhause, als welches ich hiemit auf diesen Fall bestermaßen substituiret (d. h. an die nächste Stelle) haben will, anheim fallen solle.
Deßen zur Urkund ist gegenwärtiges, so wie auch die Copey davon, welche bey dem Besitzer des Reuterhofes aufbewahret bleiben soll, von mir unterschrieben; auch eins und anderes mit meinem Pitschaft besiegelt worden. So geschehen Bonn, den 23ten December 1787. Verwittwete von Kempis, gebohrene Freyin von Sierstorpff.“

Die Stifterin hatte den Pfarrern von Grimlinghausen sicherlich keine besonders angenehme Aufgabe gestellt, als sie diese verpflichtete, jedes Jahr das tugendsamste Mädchen der Pfarre ausfindig zu machen und der Gemeinde zu präsentieren. Erfolg oder Misserfolg der guten Absicht der Witwe Theresia von Kempis, zu deren Zeit, wie sie beklagte, viele in tugendhaftem Verhalten kein sonderlich erstrebenswertes Ziel erblickten, entziehen sich außerseelsorglichen Feststellungen und lassen sich nicht erfassen. Verfehlt wäre auch, nach dem Wert oder Unwert einer solchen Stiftung zu fragen. Die Theresia von Kempis hat gewiss keine Bekehrungsaktion einleiten wollen, aber sie war sicherlich davon überzeugt, dass ein Vorbild notwendig war und dieses umso heller leuchtet und umso deutlicher wirkt, je dunkler der Hintergrund ist. Wenn die Stifterin die bald folgende Franzosenzeit erlebt hätte, die aus Grimlinghausen für einige Jahre ein gutverdienendes Schmugglerdorf mit allen Schattenseiten machte, wäre sie vielleicht zu der Erkenntnis gekommen, das von ihr ausgestreute Samenkorn sei unter die Dornen gefallen: so bittere Klage wurde über den liederlichen Lebenswandel des jungen Volkes geführt. „Die Taufbücher jener Zeit”, schreibt Pfarrer Heß später einmal in einer ortsgeschichtlichen Abhandlung, „sind ein schrecklicher Beweis für das schnelle Sinken der Moralität”.
Bis auf eine nicht geklärte Lücke von 1818 bis 1828 ist man dem Vermächtnis der Witwe von Kempis treu nachgekommen. Kein Krieg und kein Zeitenwandel haben die von der Stiftung vorgezeichnete Gewohnheit ausgemerzt oder in Vergessenheit geraten lassen. Wenn besonderer Umstände halber, wie 1795, als der Krieg gegen die anrückenden französischen Revolutionsheere unsere Heimat berührte, ein Jahr überschlagen wurde, holte man die Verleihung des Tugendpreises im folgenden Jahre nach. Deshalb finden wir 1796 und noch einmal 1854 in der Liste der Preisträgerinnen jeweils zwei Namen verzeichnet. Dieses gewissenhafte
Befolgen einer Verpflichtung ist immerhin ganz bemerkenswert, ist ein Zeichen wohl auch dafür, daß der Brauch sich im Bewusstsein der Gemeinde und in der kirchlichen Feier des Pfarrpatroziniums bzw. der Kirmes einen festen Platz gesichert hatte. Als 1855 das Schützenfest aufkam und der alten Kirchweih, der ursprünglichen Kirmes, einen neuen weltlichen Rahmen gab, blieb die Verleihung des „Kirmeskrönchens”, wie die Tugendkrone nachher einfach genannt wurde, davon unberührt. In der Gemeinsamkeit der Feier des Pfarrpatroziniums, des Festes der Schützen, und der treuen Bewahrung jener Stiftung von 1787 hat sich das christliche und heimatliche Erbe der Vergangenheit erhalten bis auf den heutigen Tag.

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